«Soziale Zeitbombe»

«Soziale Zeitbombe»

Fachleute aus Sozialdiakonie und Sozialarbeit lehnen der Vorschlag der Berner Kantonsregierung, die Sozialhilfe um zehn Prozent zu kürzen, ab. Er verschärfe die sozialen Probleme, statt struktureller Armut etwas entgegenzusetzen.

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«Soziale Zeitbombe»

Fachleute aus Sozialdiakonie und Sozialarbeit lehnen den Vorschlag der Berner Kantonsregierung, die Sozialhilfe um zehn Prozent zu kürzen, ab. Er verschärfe die sozialen Probleme, statt struktureller Armut etwas entgegenzusetzen, sagen sie.

«Der Berner Fürsorgedirektor Pierre-Alain Schnegg spricht bei der Sozialhilfe von Fördern und Fordern. Er müsste von Unternehmen Arbeitsplätze fordern und ihnen helfen, diese zu schaffen», sagt Stephan Schranz, Bereichsleiter Sozialdiakonie der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. Er reagiert damit auf den Vorschlag des Berner Regierungsrat, den Grundbedarf der Sozialhilfe um zehn Prozent zu kürzen sowie die Beiträge für junge Erwachsene und vorläufig aufgenommene Migrantinnen und Migranten noch mehr zu senken.

Die Berner Kantonsregierung möchte den Grundbedarf der Sozialhilfe unm zehn Prozent kürzen.

Damit unterläuft der Regierungsrat einen schweizweiten Kompromiss der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos), der 2016 in Kraft trat und verhindern soll, dass Arme auf andere Kantone ausweichen, bzw. abgeschoben werden. Die Skos-Richtlinien empfehlen, den Grundbedarf für eine Einzelperson mit 977 Franken zu decken. In Bern soll dieser Betrag auf 887 Franken gesenkt werden. Bis zu 15 Prozent Reduktion müssten zudem vorläufig aufgenommene Asylbewerbende bis 25 Jahre und bis zu 30 Prozent junge Erwachsene ohne Ausbildung und ohne Arbeit in Kauf nehmen. Regierungsrat Schnegg beziffert die dadurch erzielten Einsparungen mit 23 Millionen Franken. Doch diese alleine bewegen ihn nicht zu seinem Vorschlag. «Es braucht für die Sozialhilfebezüger stärkere Anreize für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit», wird er in der NZZ zitiert.

“Das ist eine soziale Zeitbombe. Schon seit der letzten Verschärfungen der Sozialhilferichtlinien suchen immer mehr Bedürftige Unterstützung bei den Kirchgemeinden.”

Stephan Schranz

Bereichsleiter Sozial-Diakonie, Ref. Kirchen Bern-Jura-Solothurn

Soziale Zeitbombe

«Das ist eine soziale Zeitbombe», warnt Stephan Schranz. Den Schaden, den die Kürzungen in Form von Not, Perspektivenlosigkeit und Gewalt infolge von Frustration anrichte, könne die Kirche nicht auffangen. Denn schon seit der letzten Verschärfungen der Sozialhilferichtlinien suchten immer mehr Bedürftige Unterstützung bei den Kirchgemeinden. Dabei geht es um Zahnbehandlungen, welche auch Erwerbstätige mit Niedriglohn nicht mehr finanzieren können, um Musikunterricht von Kindern allein Erziehender oder um Zustüpfe für Ferien. Dazu kommen Weiterbildungsangebote für Jugendliche, Deutschkurse und andere Lernprogramme.

«Die Kirche springt ein, aber es ist ein Tropfen auf den heissen Stein», sagt der Verantwortliche für Diakonie der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. Statistik über die Ausgaben und die Zahl der Bedürftigen führt er nicht, da die Kirchgemeinden frei darüber entscheiden können, wer unterstützt wird. Allen der rund 50’000 Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger im Kanton Bern können die Kirchen nicht unter die Arme greifen.

Witikon; Wikimedia/Roland zh

Schon seit der letzten Verschärfungen der Sozialhilferichtlinien suchen immer mehr Bedürftige Unterstützung bei den Kirchgemeinden.

Mehr Frustration und Verzweiflung

Professor Dr. Martin Wild, Abteilungsleiter Weiterbildung, Dienstleistung und Forschung im Bereich Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule, kritisiert den Vorschlag des Regierungsrates ebenfalls. Er würde dazu führen, dass die Schwächsten weit mehr als bisher auf die Unterstützung von Kirchen und Hilfswerken angewiesen sind. Er weist auf die persönlichen und gesellschaftlichen Folgen von Armut hin: Soziale Isolation, Angst, Schwierigkeiten bei der Stellensuche, gesundheitliche Probleme, tiefere Lebenserwartung. Das sei inzwischen sogar in der Ökonomie ein Thema, sagt Professor Wild und verweist auf eine Studie von Volkswirtschaftsprofessor Ernst Fehr von der Universität Zürich.

Doch nicht nur die Fürsorgeempfängerinnen würden unter den Kürzungen leiden, sondern indirekt auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf den Sozialämtern, die mit noch mehr Frustration und Verzweiflung zu tun haben würden. Wild kritisiert wie Schranz, die strukturellen Aspekte von Armut würden im Vorschlag des Regierungsrates ausgeblendet. Dies könnte in der Debatte des Grossrates über das Sozialhilfegesetz, die im Herbst stattfinden wird, nachgeholt werden. Eine Intervention seitens der Kirchen ist bisher nicht vorgesehen.

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