Ohne Care geht gar nichts

Ohne Care geht gar nichts

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Ohne Care geht gar nichts

Die grösstenteils von Frauen geleistete und meist unbezahlte Sorgearbeit gerät immer mehr unter Druck. Nur eine Aufwertung und Neuverteilung innerhalb der Gesellschaft kann hier Abhilfe schaffen.

Wir alle brauchen Fürsorge, um gut aufwachsen, gut leben und schliesslich gut sterben zu können. Und wir alle leisten jeden Tag Sorgearbeit. Je nach Lebensphase und Geschlecht nimmt sie mehr oder weniger Platz in unserem Alltag ein. Der englische Begriff dafür heisst Care und Care-Arbeit steht für die Betreuung von Kindern, die Pflege von betagten und kranken Menschen, aber auch die Fürsorge in Partnerschaft und unter Freunden. Konkret sind dies Tätigkeiten wie Essen zubereiten, waschen, mit Kindern Hausaufgaben machen oder kranke Angehörige zur Ärztin begleiten. In armen Regionen der Welt braucht es für diese Tätigkeiten noch viel mehr Zeit: Die Wäsche wird von Hand am Fluss gewaschen, und für das Mittagessen muss erst Feuerholz gesammelt und Wasser vom Brunnen geholt werden. Ohne Fürsorge könnte kein Mensch überleben, und unsere Gesellschaft würde innerhalb kürzester Zeit auseinanderbrechen. Überall auf der Welt hängt ein gutes Leben essenziell davon ab, ob Sorgearbeit unter guten Bedingungen und mit ausreichend Zeit geleistet werden kann.

Unsichtbar und nicht anerkannt

Trotz des unbestreitbaren Stellenwerts findet Care-Arbeit in Wirtschaft und Politik kaum Beachtung. Und dies, obwohl das volkswirtschaftliche Volumen immens ist: In der Schweiz ist 2013 rund 8,7 Milliarden Stunden unbezahlt gearbeitet worden, fast alles in Form von Care-Arbeit. Dies sind rund 14 Prozent mehr Zeit, als für die bezahlte Arbeit (7,7 Milliarden Stunden) aufgewendet wurde. Das Bundesamt für Statistik schätzt die geleistete unbezahlte Arbeit 2013 auf einen Geldwert von 401 Milliarden Franken. Kommt hinzu: Mehr als zwei Drittel der unbezahlten Arbeit wird von Frauen geleistet. Denn wie in allen anderen Ländern ist Care-Arbeit auch in der Schweiz grösstenteils Frauensache.

In der Schweiz ist 2013 rund 8,7 Milliarden Stunden unbezahlt gearbeitet worden, fast alles in Form von Care-Arbeit. Dies sind rund 14 Prozent mehr Zeit, als für die bezahlte Arbeit (7,7 Milliarden Stunden) aufgewendet wurde.

Witikon; Wikimedia/Roland zh

Zankapfel bezahlte Care-Arbeit

Nur gerade 10 Prozent der gesamten Sorgearbeit in der Schweiz fällt auf den bezahlten Care-Sektor, zu dem etwa Kindertagesstätten, Pflege- und Altersheime gehören. Und doch ist vor allem dieser Teil Ursache für heftige Auseinandersetzungen in Gesellschaft und Politik. Die aktuelle Debatte wird durch Begriffe wie «Kostenexplosion» und durch Sparmassnahmen im Sozial- und Gesundheitswesen geprägt. Laut aktuellen Prognosen müssen alleine in der Schweiz in den kommenden Jahren 120 000 neue Stellen im Pflege- und Betreuungsbereich geschaffen werden.

Als Ursache für den Pflegenotstand werden häufig die demografische Entwicklung genannt sowie der Zerfall traditioneller familiärer Strukturen, das Streben der Frauen nach Gleichberechtigung und ihre Einbindung in den Arbeitsmarkt. Tatsache ist jedoch auch, dass viele Haushalte angesichts steigender Lebenserhaltungskosten – nicht zuletzt wegen zusätzlichen Gesundheits- und Betreuungsausgaben – nur noch dann finanziell über die Runden kommen, wenn beide Elternteile arbeiten.

Auch die Entwicklungszusammenarbeit engagiert sich unter dem Postulat der Armutsreduzierung dafür, Frauen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wenn aber nicht gleichzeitig gute öffentliche Care-Dienste entstehen, bleiben die Gleichstellung und das Recht der Frauen auf politische und ökonomische Aktivitäten auf halber Strecke stehen.

Und wer füllt die Lücke?

Die Zeit, die heute zusätzlich für Erwerbsarbeit aufgewendet wird, fehlt vor allem zu Hause. Denn die Lücke, die die Frauen dort hinterlassen, wird von den Männern nicht ausgefüllt. Zwar geben neun von zehn Männern bei Umfragen an, dass sie gerne Teilzeit arbeiten würden, gleichzeitig wird Teilzeitarbeit jedoch nach wie vor als Karrierekiller empfunden. Wenn möglich, wird in der Kinderbetreuung viel von den Grosseltern übernommen, denn subventionierte Plätze in Kinderkrippen sind noch immer Mangelware. Oft jedoch leben Eltern und erwachsene Kinder weit voneinander entfernt. Und wenn die eigenen Eltern pflegebedürftig werden und private Pflegeheime ausserhalb des Budgets liegen, bleibt noch die Option, schlecht bezahlte Migrantinnen aus Osteuropa, Lateinamerika oder Südostasien zu engagieren. So wird die Sorgearbeit quasi aus dem Ausland eingekauft und das Care Defizit in arme Länder verlagert.

Der Faktor Zeit

Ein elementarer Faktor der Sorgearbeit ist Zeit. Denn CareArbeiten sind personenbezogen und basieren auf der Zeit, die miteinander verbracht wird. Ob sich eine Person gut betreut fühlt, hängt wesentlich davon ab, ob eine vertrauensvolle Beziehung besteht oder nicht. Aktuelle Massnahmen, den professionellen Pflege- und Gesundheitsbereich effizienter zu gestalten, laufen diesem Anspruch zuwider. Etwa, wenn minutengenau vorgeschrieben wird, wie lange ein Verbandswechsel dauern darf. Doch Care-Arbeiten können nicht – wie die industrielle Güterproduktion – effizienter und damit schneller und profitabler organisiert werden, ohne drastisch an Qualität zu verlieren. «Man kann ein Auto doppelt so schnell produzieren, aber ein Kind nicht doppelt so schnell betreuen», erläutert es jeweils die feministische Ökonomin Mascha Madörin, die als eine der Ersten auf das Ausmass und die Wichtigkeit der Care-Arbeit in der Schweiz aufmerksam gemacht hat.

Neue Modelle sind gefragt

Einen einfachen Weg aus der aktuellen Care-Krise gibt es nicht. Denn schlussendlich geht es um nichts weniger als um eine gesellschaftliche Neuverteilung der Sorgearbeit – zwischen staatlich finanzierten Institutionen und zivilgesellschaftlichen Akteuren wie Kirchen, Nachbarschaftsvereinen und Haushalten, zwischen Frauen und Männern, zwischen Jung und Alt. Dafür braucht es gute öffentliche Care-Dienste wie auch Freiräume, die es ermöglichen, sich um andere kümmern zu können. Und vor allem muss das Verhältnis von bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Care-Arbeit grundsätzlich überdacht und neu bewertet werden. Denn nur mit zusätzlichen zeitlichen Ressourcen wird es möglich, neue Konzepte der Solidarität zu etablieren.

Der Text ist mit freundlicher Genehmigung von Brot für alle übernommen. Dieser Artikel basiert auf Diskussionen und der Denkarbeit des feministischen Netzwerks WIDE zur aktuellen Care-Krise und möglichen Lösungsansätzen. WIDE wird von Brot für alle und Fastenopfer unterstützt.

Tina Goethe

Teamleiterin Recht auf Nahrung / Klimawandel, Brot für alle

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