Armut ist kein persönliches Versagen

Armut ist kein persönliches Versagen

Kinderarmut in der Schweiz ist ein Thema, über das kaum jemand spricht. Und doch sind 144'000 Kinder von Armut betroffen und 291'000 sind von Armut bedroht. Diese Kinder wachsen in einem Haushalt auf, in dem Mangel zum Alltag gehört. Das verschlechtert die sozialen, kulturellen und gesundheitlichen Chancen.

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"Armut ist kein persönliches Versagen"

Kinderarmut in der Schweiz ist ein Thema, über das kaum jemand spricht. Und doch sind 144’000 Kinder von Armut betroffen und 291’000 sind von Armut bedroht. Diese Kinder wachsen in einem Haushalt auf, in dem Mangel zum Alltag gehört. Das verschlechtert die sozialen, kulturellen und gesundheitlichen Chancen.

Armut grenzt aus und macht krank, darauf weist die Gemeinsame Erklärung des deutschen Ratschlags Kinderarmut anlässlich des Internationalen Kindertages Anfang Juni hin: diese Zusammenhänge seien seit Langem bekannt und wissenschaftlich erwiesen.

Seit März 2020 schränkt Corona das Leben der Menschen ein. Diejenigen, die ohnehin am stärksten strukturellen Benachteiligungen ausgesetzt seien, stünden auch in dieser Krise unter keinem ausreichenden Rettungsschirm, so die Erklärung der Organisationen, zu denen auch die Diakonie Deutschland zählt. Arme und armutsbedrohte Familien müssten den Wegfall von Leistungen für Bildung und Teilhabe kompensieren. Sie blieben weitgehend auf sich alleine gestellt, wenn soziale Einrichtungen geschlossen würden. Damit verstärke die Krise strukturelle Benachteiligungen und treffe vor allem die Schwächsten.

Armut ist kein persönliches Versagen

Die meisten Eltern sparten eher bei sich selbst, um den Geburtstagswunsch ihrer Kinder zu erfüllen oder den Sportverein zu bezahlen. Dennoch reiche das Geld häufig nicht aus, da Löhne zu niedrig, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu wenig unterstützt, Kinderbetreuung teilweise nicht bedarfsgerecht und kindbezogene Sozialleistungen nicht bedarfsdeckend seien. Dennoch halte sich bei einigen hartnäckig die Auffassung, dass arme Familien ihre Lage selbst verschuldeten und arme Eltern verantwortungslos handelten. Armut ist kein Versagen des Einzelnen, so das Papier. Stattdessen müsse Armut als strukturelles Problem begriffen werden. Armutsbekämpfung sei kein Verteilen von Almosen, denn jedes Kind habe ein Recht auf ein gutes Aufwachsen.

Die Feststellung des Existenzminimums von Kindern und Jugendlichen sei für das Steuerrecht, aber auch für alle familienbezogenen und sozialen Leistungen von entscheidender Bedeutung. Willkürliche Abzüge oder Anrechnungen führten dazu, dass das Existenzminimum und damit die Auszahlungsbeträge unterschiedlich hoch ausfielen. Eine solche Ungleichbehandlung müsse beendet werden. Das Existenzminimum müsse auskömmlich sein und Teilhabe für jene Kinder und Jugendlichen ermöglichen, deren Eltern sie nicht gewährleisten könnten. Dabei dürften der Ausbau der Infrastruktur und die materielle Besserstellung nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dies seien zwei zentrale Säulen für ein gutes Aufwachsen.

Angebote und Leistungen zur Unterstützung armer Kinder, Jugendlicher und Familien müssen so ausgestaltet werden, dass sie niederschwellig zur Verfügung stehen und von den Leistungsberechtigten leicht in Anspruch genommen werden können, so die Erklärung. Finanzielle Leistungen sollten unbürokratisch und möglichst automatisch an Anspruchsberechtigte ausbezahlt werden. Eine gute Armutspolitik messe sich nicht daran, ob sie Leistungen vorhalte, sondern ob diese auch ankämen.

Kinderarmut in Zeiten von Corona

Die Covid-19-Pandemie habe eine beispiellose wirtschaftliche und soziale Krise ausgelöst, die vielen Familien weltweit ihrer Lebensgrundlagen beraube, so UNICEF und Save the Children. Das Ausmass und die Intensität der finanziellen Not drohe die in den vergangenen Jahren erreichten Fortschritte im Kampf gegen die Kinderarmut zunichte zu machen.

Laut einer aktuellen Analyse der beiden Organisationen könnte die Zahl der Kinder, die in von Armut betroffenen Haushalten leben, in Folge der Covid-19-Pandemie in diesem Jahr um 15 Prozent ansteigen. Die Zahl der Kinder, die in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen unter der nationalen Armutsgrenze lebten, könne sich bis Jahresende auf 672 Millionen erhöhen.

Rund zwei Drittel der betroffenen Kinder leben laut Studie in Subsahara-Afrika und Südasien. Mit einem Anstieg der Kinderarmut von bis zu 44 Prozent könnten Europa und Zentralasien demnach am stärksten betroffen sein. In Lateinamerika und der Karibik liege der Anstieg voraussichtlich bei 22 Prozent.

Die Organisationen warnen vor den Auswirkungen der heraufziehenden globalen Wirtschaftskrise. Sie appellieren an die Regierungen, soziale Sicherungssysteme und Programme rasch und umfassend auszuweiten, um die Auswirkungen von Covid-19 auf Kinder in einkommensschwachen Haushalten abzumildern. Dazu gehörten zum Beispiel Bargeldtransfers, Schulspeisungen und Kindergeld, um sowohl die akute finanzielle Not abzuschwächen sowie langfristig dafür zu sorgen, dass besonders arme Familien besser für zukünftige Krisen gewappnet seien.

Darüber hinaus sollten Regierungen in weitere Massnahmen der sozialen Sicherung und eine Steuer-, Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik investieren, die Familien unterstützt. Dazu gehöre sowohl die Ausweitung des universellen Zugangs zu qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung und anderen grundlegenden Dienstleistungen, als auch Investitionen in familienfreundliche Massnahmen wie bezahlten Urlaub und Kinderbetreuung.

Armut in der Schweiz

Trotz mehrjähriger guter Konjunktur und rekordtiefer Arbeitslosigkeit gelingt es der Schweiz nach wie vor nicht, die Armut zu reduzieren, mahnt die Caritas in ihrem aktuellen Sozialalmanach. Seit fünf Jahren nimmt demnach die Zahl der Armutsbetroffenen zu. Das Sozialhilferisiko steigt bereits ab 46 Jahren.

Armut in der Schweiz steigt seit 2014 konstant an. Rund 675 000 Personen waren 2017 in der Schweiz von Armut betroffen. Das entspricht einem Anstieg innerhalb eines Jahres um fast 10 Prozent, so die Caritas. Dies falle umso mehr ins Gewicht, als die Arbeitslosigkeit 2018 mit 2,6 Prozent so tief lag wie seit zehn Jahren nicht mehr.

Dass auch vor Corona nicht alle Menschen von der guten Wirtschaftslage profitieren, zeige auch die Zunahme der prekären Arbeitsverhältnisse, die eine Existenzsicherung aus eigener Kraft erschwerten. Einkommensschwache Personen müssten immer öfter mehrere Stellen besetzen, um ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. Zudem habe die Zahl der Personen, die unfreiwillig in reduzierten Pensen arbeiten, in den letzten Jahren zugenommen. 2018 hätten 360 000 Personen in der Schweiz gerne mehr gearbeitet, fanden aber keine passende Stelle in höherem Pensum. Frauen seien dreimal häufiger betroffen als Männer. Auch übers Ganze gesehen arbeiteten Frauen dreimal öfter in einem Teilzeitpensum als Männer. Die Folgen seien fatal. Gesamthaft falle die Altersrente der Frauen um 37 Prozent tiefer aus, als diejenige der Männer. Noch immer werde Care-Arbeit im System der sozialen Sicherheit ungenügend berücksichtigt. Es sei deshalb wenig erstaunlich, dass Frauen im Alter ein doppelt so hohes Armutsrisiko aufwiesen wie Männer.

Noch deutlicher ist die Situation seit Beginn der Pandemie: Die Zahl der Menschen, die Anspruch auf wirtschaftliche Sozialhilfe beantragten, sei nach dem 16. März abrupt auf das Vierfache gegenüber der Vorperiode angestiegen, so eine Mitteilung der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. Bei der Hälfte der Sozialdienste hätten sich mindestens sechsmal mehr Menschen gemeldet, bei einzelnen Diensten seien es zwanzig Mal mehr gewesen.

Am stärksten betroffen seien Arbeitnehmende im Stundenlohn oder mit prekären Teilzeitanstellungen sowie Selbständigerwerbende. Ebenso könne man davon ausgehen, dass sich ausländische Personen trotz Notlage kaum meldeten, um ihren Aufenthaltsstatus nicht zu gefährden.

Kindesschutz besorgniserregend

Ebenso besorgniserregend seien laut den ZHAW-Studienautoren die Einschränkungen im Kindesschutz. Dieser werde in kleineren und mittelgrossen Gemeinden vieler Kantone von den Sozialdiensten wahrgenommen. Gemäss knapp der Hälfte der befragten Fachpersonen seien Kindeswohlgefährdungen deutlich schwieriger einzuschätzen. Persönlicher Kontakt bestehe nur in akuten Fällen, Hausbesuche vor Ort würden nicht mehr durchgeführt. Statt sich selbst ein Bild von der familiären Situation machen und nonverbale Zeichen wie Körpersprache oder Umgebungseindrücke erfassen zu können, bliebe den Diensten meist nur die Erzählungen der Eltern, da Telefongespräche mit Kindern schwierig oder gar nicht möglich seien. Erschwerend komme dazu, dass auch Gefährdungsmeldungen von anderen Institutionen wie Spielgruppen, Schulen oder Vereine wegfielen.

 

 

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